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Prädiktive Medizin mittels Zytomik

Zellbiochemiegruppe (1960-2006)
external link Max-Planck-Institut für Biochemie, Martinsried

Individualisierte Vorhersagen von Krankheitsverläufen
(Evidenz basierte Medizin auf Zellniveau)
1. Zielsetzung und Potenzial

1.1 Medikamente werden typischerweise nach bester Gruppen(Kohorten)wirksamkeit entwickelt und in der Therapiephase bei ähnlichen Patientengruppen eingesetzt. Bei einem gewissen Prozentsatz von Patienten kann ein Medikament wirkungslos bleiben oder unerwünschte Nebenwirkungen (adverse drug reactions (ADR)) hervorrufen trotz insgesamt verbesserter Prognose (=Gruppenzukunft) der gesamten Patientengruppe, was suboptimal ist. Richtige Vorhersagen über die Reaktivität des Einzelpatienten vor Therapiebeginn sind deshalb ein vorrangiges Ziel der Prädiktive Medizin (Prädiktivmedizin) mittels Zytomik. Individualisierte Vorhersagen des weiteren Krankheitsverlaufs können die gesamttherapeutische Wirksamkeit von Medikamenten erhöhen, dem "primum nil nocere" Prinzip der Medizin und dem Patientenwunsch besser entsprechen, individualisiert d.h. durch eine für den Einzellfall optimierte Therapie von einer Krankheit geheilt zu werden.

1.2 Prädiktive Medizin mittels Zytomik (molekulare Zellsystemanalyse) (Abb.1) strebt eine >95% oder höhere Richtigkeit der Vorhersage des Therapie abhängigen Krankheitsverlauf durch differenzielle Datenmuster Klassifizierung (prädiktive Differenzialmuster, prädiktive Differenzialklassifikation) molekularer Zellphänotypen beim Einzelpatienten an. Sie werden mittels zytometrischer oder anderer Messung bestimmt. Zellen sind die elementaren Funktionseinheiten von Zellsystemen (Zytome), Organen und Organismen. Krankheiten entstehen durch molekulare Veränderungen in Zellen, was für die frühe Entdeckung von Krankheiten bedeutet: Zellen wissen es zuerst.

Prädiktive Medizin (Prädiktivmedizin)
    mittels Zytomik, Zytometrie als Zugang zur Zellsystemanalyse Abb.1 Systemzytometrie und Zellsystembiologie

Dies unterstreicht die Bedeutung der zytometrischen Analyse molekularer Zellphänotypen, die sich durch Genotyp- und Expositionseinflüsse verändern können. Falls keine krankheitsinduzierenden Zellen gewonnen werden können, besteht die Möglichkeit, Reaktionszeichen immunologischer Indikatorzellen, wie die zelluläre oder humorale Antwort von Lympho-/Monozyten oder die Granulozytenaktivierung in Blutproben bzw. in anderen Körperflüssigkeiten zu messen. Ähnliche Krankheitszustände können durch hohe genotypische Empfindlichkeit bei niedriger Exposition oder durch niedrige genotypische Empfindlichkeit bei hoher Exposition entstehen. Die hohe genotypische Diversität des Menschen bei einer vergleichsweise geringen Anzahl möglicher Krankheiten unterstreicht das Potenzial molekularer Zellphänotypen als diagnostische Therapie leitende und prädiktive Indikatoren für den weiteren Krankheitsverlauf. Deshalb mag es vielversprechender sein, molekulare Zellphänotypen therapeutisch zu beeinflussen als Patienten entsprechend ihres individuellen Genotyps zu behandeln, was die Anzahl möglicher Therapien deutlich reduzieren würde.

Es ist in jedem Fall fraglich, ob das zukünftige Auftreten von Krankheit allein vom Genotyp aus vorhergesagt werden kann, zu einer Zeit, wo die zukünftige Expositionsgeschichte eines Individuums noch unbekannt ist. Die Exposition gegenüber externen Einflüssen ist ein wichtiger Krankheitsverursacher, wie etwa aus dem uneinheitlichen Auftreten von Morbus Parkinson bei identischen Zwillingen (z.B. ref.1,2) ersichtlich ist. Es ist möglich, dass molekulare Zellphänotypen auch in diesem Fall frühere Informationen über das das zukünftige Auftreten von Krankheit enthalten als die alleinige Bestimmung des Genotyps.

1.3 Differenzielle Klassifizierungsmasken entstehen durch die iterative Anreicherung der diskriminantesten Parameter der anfänglichen Tripelmatrixmuster aller Patientenmesswerte. Der Optimierungsprozess ergibt Krankheits- und Patientenklassifizierungsmasken (jeweils rechte Tabellenspalte). Diese stellen direkte oder indirekte molekulare Äquivalente von Krankheitsprozessen dar. Solche Klassifizierungsmasken können für kranke oder Krankheits-assoziierte Zellen untersucht werden, wie zum Beispiel Entzündungszellen für die standardisierte Klassifizierung differentieller Immunreaktionen. Die jeweiligen Datenmuster können bis zu einem gewissen Grade zwischen einzelnen Patienten variieren, wegen den von Person zu Person unterschiedlichen Kombinationen von genotypischen und Expositionseinflüssen. Das beeinflusst die Richtigkeit des robusten Klassifizierungsprozesses jedoch nicht. Die individuell optimale Therapie in stratifizierten Patientengruppen kann, bei Verfügbarkeit geeigneter Klassifizierer, im Einzelfall mittels Datenmusterklassifizierung (Datenmusteranalyse) aus mehreren grundsätzlich möglichen Therapien ermittelt werden (individualisierte Medizin bzw. personalisierte Medizin z.B. in Kaplan-Meier stratifizierten Patientengruppen). Das vorgestellte Konzept der personalisierten Medizin zielt auf die verbesserte Versorgung bereits erkrankter oder gerade erkrankender Patienten ab, nicht aber auf die Ermittlung möglicher zukünftiger Krankheitsrisiken aus dem individuellen Genotyp (gläserner Mensch). Das Konzept verfügt über einen weiteren Anwendungsbereich als die Pharmakogenomik und prädiktive Medizin mittels Genomik Konzepte der personalisierten Medizin, wenn diese auf Genotypanalyse beschränkt bleiben. Es fußt auf algorithmisch ermittelten Datenmustern, deren Ermittlung keine Statistik- oder Korrelationsauswertung (Dendrogramme) der Meßdaten erfordert

1.4 Patienten mit der Vorhersage "Verschlechterung" können unter Therapie nach einiger Zeit zu "komplikationsfreien" Patienten werden, wie z.B. in der Intensivmedizin. Die vorauseilende Erkennung von Krankheitsverschlechterung oder Besserung ergibt eine therapeutische Vorlaufzeit zum frühzeitigeren präventiven Therapiebeginn bzw. zur früheren Therapiereduzierung (Präventivmedizin, präventive Medizin).

1.5 Die therapeutische Vorlaufzeit kann die Therapieeffizienz durch Vermeidung oder Verminderung krankheitsbedingter, irreversibler Gewebeschädigungen steigern sowie unerwünschte therapeutische Nebenwirkungen vermindern. Sie kann auch dazu führen, Risikopatienten bereits vor dem Krankheitsausbruch zu identifizieren, wie etwa bei Asthma, sowie infektiösen, entzündlichen und rheumatischen Krankheiten oder bei Diabetes, was den Krankheitsausbruch verzögern und zu einer Reduzierung der Gesamtkomplikationsrate bei diesen Krankheiten als wesentliche praktische Konsequenz führen kann.

1.6 Die Richtigkeit der Vorhersage des zukünftigen Krankheitsverlaufs kann durch die Zusammenführung informativer Parameter aus verschiedenen Studien in die Krankheitsklassifizierungsmasken ("Krankheits-Signatur") von gegenwärtig üblicherweise 95% prinzipiell auf 99% oder höher gesteigert werden. Die Wissensextraktion mittels Datenmusterklassifizierung ist unabhängig von mathematischen Annahmen zu den Werteverteilungen der Meßparameter, die optimale Klassifizierung wird weitestgehend ohne Risiko für eine irrtümliche Auswahl suboptimaler Datenmuster erreicht und ist vergleichseise robust gegen fehlerhafte Klassifizierungen statistischer Zufallsabweichungen als echte Abweichungen.

1.7 Die zweistufige Forschungsstrategie besteht aus einer i) Hypothesen-gesteuerten Messparameterauswahl (deduktiver Zugang) bei der Erhebung molekularer Zellphänotypmuster zur Unterscheidung kranker von gesunden Personen, gefolgt von der ii) hypothesenfreien differentiellen Datenmusterklassifizierung (data mining) der Zellparameter aller untersuchten Zellen in ihrer vollen Heterogenität.
Die Nutzung gesunder Personen als Referenzgruppen ermöglicht die Entwicklung standardisierter Klassifizierer (periodisches System der Zellen) mittels kombinierter Reklassifizierung der diskriminantesten Parameter aus mehreren Studien (induktiver Zugang), die mit unterschiedlichen Hypothesen und anderen Parametermustern an ähnlichen Patientengruppen durchgeführt wurden. Auch nicht zelluläre Parameter z.B. von Serum, Urin oder Liquor können analysiert werden. Auf diese Weise entstehen selbstschärfend Datenmuster mit immer größerer Unterscheidungfähigkeit zwischen krank und gesund. Dies mag zur Identifizierung neuer molekularer Brennpunkte führen, die gegenwärtig, mangels Vorwissen, der Hypothesenbildung unzugänglich sind ("beobachtende Molekularmedizin").
Die Daten-gesteuerte molekulare top-down Analyse zellulärer und anderer Parameter ist in der Anfangsphase vergleichsweise unabhängig vom detaillierten Vorwissen über die letzliche molekulare Krankheitsursache. Insbesondere ist es nicht erforderlich, zuerst die molekularen Effekte Hypothesen gesteuerter Störungen zellulärer Modellsysteme zu kennen, um genügend Vorwissen über krankheitsbetroffene Stoffwechselwege als Voraussetzung für das Studium spezifischer Krankheitsprozesse anzusammeln, wie im vom Gen zur Zelle gerichteten bottom-up Konzept der Systembiologie. Im Gegensatz dazu werden bei der molekularen Zytomerforschung, differenzielle molekulare Krankheitsmuster in Patientenzellen analysiert. Der Umweg, molekulare Mechanismen in möglicherweise ungeeigneter zellulärer Modellsysteme zu untersuchen, wird hierdurch vermieden. Darüberhinaus ergibt sich Information über den therapieabhängigen zukünftigen Krankheitsverlauf beim Einzelpatienten mit dem Potenzial zur vereinfachten Untersuchug von Krankheitsmechanismen und zur Entwicklung neuer Hypothesen.

1.8 Krankheits-induzierende molekulare Stoffwechselwege können durch retrograde Molekularanalyse (reverse-engineering) der differenziellen molekularen Zellphänotypen auf Zellsystemebene näher erkundet und mathematisch modelliert werden (biomedizinische Zellsystembiologie). Hierbei ist es wahrscheinlich, daß neue Zielmoleküle und Leitstrukturen für die Medikamententwicklung gefunden werden können, da die Hypothesen-freie Datenmusterklassifizierung unbekannte molekulare Wissensräume ansprechen kann, die der Hypothesenentwicklung verborgen sind. In diesem Sinne ermöglicht die Zytomik den Zugang zur biomedizinischen Zellsystembiologie.

1.9 Das beschriebene Klassifizierungskonzept konzentriert die differentiell informativsten molekulare Zellparameter in spezifischen Krankheits-Klassifizierungsmasken, die typischerweise zwischen 5 und 30 Parameter enthalten. Die Vorgehensweise läuft demgemäß nicht auf die Bestimmung einer immer größerer Anzahl molekularer Parameter hinaus, die häufig eher zu Interpretationsschwierigkeiten als zu mehr Klarheit im Einzelfall führen. Das Konzept reicht vom apparenten molekularen Zellphänotyp als Krankheitsäquivalent zur molekularen Kodierungsinformation auf Genomebene. Das Potenzial des Einzelpatienten sowie Einzelzell-gerichteten Analysekonzeptes liegt in seiner allgemeinen Anwendbarkeit auf verschiedenste Bereiche der klinischen und ambulanten Medizin. Dies wird nachfolgend durch die Ergebnisse einer Reihe kollaborativer Projekte mit Kliniken und anderen wissenschaftlichen Einrichtungen sowie im Rahmen der Europäischen Arbeitsgruppe für Klinische Zellanalyse (external link EWGCCA) für die klinische Zytomik unterstrichen. Die augenscheinliche Herausforderung besteht im allgemeinen Ausbau dieses Konzeptes bis zur Patientenebene, in gemeinsamer Anstrengung von Wissenschaft, Klinik und Industrie z.B. im Rahmen der Bemühungen zur Konzeptualisierung eines Humanzytomprojektes (PPT, ref181, ref175, ref170, Konzepte, Definitionen, Zytomikliteratur) oder der Etablierung eines periodischen Systems der Zellen. Ein solches Zellsystem mit Stammzellen oder anderen spezifischen Zellkompartimenten als Referenz ähnelt im Namen nicht aber im Inhalt dem früher vorgeschlagenen *external link periodischen Sytem für Pflanzenzellen.

Ein Humanzytomprojekt kann die Entwicklung eines molekularen Krankheitsklassifizierungssystems befördern, das in wesentlichen Teilen auf individuell prädiktiven Datenmustern beruht. Die Anzahl menschlicher Krankheiten bewegt sich in den hunderten oder tausenden, d.h.deutlich weniger als die Anzahl der Menschen auf diesem Planeten. Eine gegebene Krankheit manifestiert sich deshalb in einer Vielzahl genetisch verschiedener Menschen mit jeweils unterschiedlichen Umweltexpositionen und Krankheitsgeschichten. Dies führt zu Heterogenitäten beim Therapieerfolg z.B. bei rheumatischen Erkrankungen oder Malignomen. Die klinische Medizin trägt dem durch eine prätherapeutische Patientenstratifizierung Rechnung, um, so gut wie möglich, die therapiesensitiven Patienten zu identifizieren. Ein molekulares Klassifizierungssystem für Krankheiten, das auf standardisierten diagnostischen oder prädiktiven Datenmustern beruht, hat das Potenzial zur präziseren Definition diagnostischer Entitäten unter Einschluss der Vorhersage des Therapieerfolgs im Einzelfall.

2. Individualisierte Vorhersagen des Krankheitsfortschritts für Hochrisikopatienten (Medizinische/Klinische Zytomik) 3. Nicht medizinische Datenklassifikationen 4. Zeitverlauf Konzeptentwicklung

5. öffentliches Interesse


6. Referenzen
1. CM Tanner, R Ottman, SM Goldman, J Ellenberg, P Chan, R Mayeux JW Langstorf. Parkinson disease in twins: an etiologic study. JAMA (1999) 281:341-346.
2. K Wirdefeld, M Gatz, ChA Reynolds, CA Prescott, NL Pederson. Heritability of Parkinson disease in Swedish twins: a longitudinal study. Neurobiol Aging 32(10):1923:e1-1923.e8.doi:10.1016/j.neurobiolaging.2011.02.017.



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Letzte Aufdatierung: 04.01.2023
Erste Darstellung: 15.11.2002